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Montag, 11. September 2023

Aller Anfang ist schwer - gerade mit Depression

 

blog Montag 11.09.2023

 

Die erste Woche nach der langen Sommerpause (8 Wochen) haben wir eigentlich ganz gut wieder hinbekommen – also mit Y. (30, Down-Syndrom, Depression mit Angst- und Panikattacken).

Morgens, natürlich, mit dem gewohnten Widerstand, mal mehr, mal weniger heftig, aber wir haben es täglich geschafft, dass er wieder ins Centro (Werkstätte) geht. Noch waren nicht alle Nutzer wieder zurück, manche hängen "aus Umständen“ einfach noch eine Woche dran. Aber ab heute sind sie alle wieder zurück.

Erste Zeit der C.-Zeit zuhause - da war die Welt noch in Ordnung

Und heute war der Widerstand bei Y. echt äusserst extrem. Den Kleinbus vom Centro haben wir nicht geschafft – wir sind spät aufgestanden heute Morgen wegen dem heftigen Gewitter in der Nacht, wir hatten einiges zu managen zwischen 2 und 4 Uhr morgens. Also bin ich mit Y. gleich im Auto durchgestartet. Schon während der Fahrt (und vorher zuhause auch) hat er sich lautstark, schimpfend und fluchend weigern wollen ins Centro zu gehen.

Ok, von sowas lasse ich mich inzwischen nicht mehr aus der Ruhe bringen. Ich weiss ja, dass dieser resolute Widerstand mit der Depression zu tun hat. Und er ist eigentlich wirklich sehr gerne dort, seit seiner Erkrankung vor zwei Jahren sind alle Mitarbeiter – und seine Freunde dort sowieso – so sehr auf ihn eingestellt; sie kennen ihn alle von vor der C-Zeit als fröhlich, neugierig, hilfsbereit, begeistert von allen Tätigkeiten, die er dort hat … Es war sein zweites zuhause und er fragte jedes Wochenende, ob er wieder dorthin gehen darf.

Wie gerne hat er Fussball gespielt - schade, vorbei bis jetzt.


Heute - dort in der Auffahrt vor dem Eingang des Centros angekommen - Blockade total! Er blockiert die Öffnungsknopf der Türe mit seinen Fingern – das kenne ich schon. Deshalb gehe ich mit dem elektronischen Schlüssel gleich von draussen dran, habe die Hand bereits am Türgriff, während ich mit der anderen Hand den Schlüssel betätige. Meistens gelingt das in einem Bruchteil einer Sekunde und die Tür ist auf, also offen. (Oft genug braucht's mehr Ansätze :D)

Nein, nein, nein, er will nach Hause, schimpfen, fluchen, schreien!

Da habe ich allerdings noch eine Hürde – der Gurt. (Wer hat nur diesen Gurt erfunden! :D) Yannick krallt sich mit beiden so dermassen fest, da hast du alleine fast keine Chance ihn davon ab zu bringen. Er hält die linke Hand auf der Steckvorrichtung. Nur vom hinteren Sitz gelingt es mir, den Knopf dort zu drücken – unter erschwerten Umständen von ihm fest umklammert, um den Gurt zu lösen. Alles – wie gesagt mit innerer Ruhe, äusserer Stärke. Jetzt „nur“ noch die Hände vom Gurtband lösen – zwei! Hände.

Da braucht’s wohl dosierte Kraft, denn ich will ihm ja nicht wehtun, er allerdings setzt absolut volle Kraft ein. Manchmal geht die Rechnung auf. Meistens ist zu diesem Zeitpunkt auch schon Hilfe aus dem Centro da, allerdings dürfen sie – und das ist auch richtig so – keine Kraft einsetzen, nur Geduld, Taktik, ruhiges Zureden …

Wenn ich jetzt noch seine Beine aus dem Auto bekomme, dann geht’s meistens schon mit seinem eigenen Dazutun zu diesem Moment, da löst sich seine Blockade schon so langsam. (Diese Blockade hat echt ausschliesslich mit der Depression zu tun, denn er ist in diesem Centro wirklich, wirklich so gut „aufgehoben“. Es ist das beste Team dort ever! Wir arbeiten alle zusammen, wir die Eltern, die Mitarbeiter dort, die Direktorin, die Rezeptionisten, der Busfahrer, die Begleitpersonen, alle, alle. Da lasse ich nichts, aber auch echt gar nichts auf das Personal und dieses Centro kommen, da haben wir aller-, allergrösstes Vertrauen.)

Aber heute ging nichts mehr. Eine neue Taktik muss her, denn eines ist sicher: ich werde nicht mit ihm nach Hause fahren – diese Aktion wäre absolut kontraproduktiv.

Du fragst dich jetzt wahrscheinlich, vielleicht ist aber wichtig, dass er zu Hause ist, vielleicht hat er ja was Bestimmtes vor? Nein – er sitzt den ganzen Tag nur auf dem Sofa und schaut fern. Ok, er schaut wenigstens den ganzen Tag ARTE, da kommen wenigstens noch etwas bessere Dokumentarfilme über Tiere, Natur, etc. Aber trotzdem – es ist in keinster Weise förderlich. Er beschäftigt sich mit nichts, und es ist so schwierig ihn zum sich-beschäftigen zu bewegen. Er braucht seine Freunde um sich herum, er braucht seine Routine – das A und O bei dem Heilungsprozess einer Depression.

Also, habe ich ihm mit Absprache der Psychologin vom Centro (alle sind da immer involviert) gesagt, er kann im Auto sitzen bleiben, bis es ihm besser geht und er selbst ins Centro geht. Inzwischen gehe ich zur Bushaltestelle und fahre mit dem öffentlichen Bus nach Hause – und ich bin aus dem Gelände gegangen.

Draussen stand ich natürlich vor dem Tor – versteckt, auf Abruf. Es tat sich nichts. Sie versuchten es immer mal wieder mit dem einen, mit dem anderen Mitarbeiter – nichts, einfach nichts. Nach 20 Minuten haben sie mich dann doch wieder rein gerufen, wir haben es nochmal zusammen versucht – keine Chance.

Dann bin ich erstmal wieder ins Centro hinein, abwartend, habe einen Kaffee getrunken. Als dann die erste grosse Pause war, brachten sie dann seine kleine Freundin mit nach draussen (inzwischen unser As im Ärmel, unser letzter Trumpf – das muss es aber auch bleiben, denn er soll ja von sich aus, wie früher, wieder ins Centro gehen, und dieser Trumpf darf nicht "abstumpfen").

Und nach weiteren 15 Minuten gelang es dann tatsächlich – Y. stieg freiwillig aus dem Auto aus, an der Hand seiner kleinen Freundin (die er aber von Anfang an nur immer beschützen will, sonst nichts – sie ist so klein, so schüchtern …) und zusammen mit fast schon einem ganzen Empfangs-Komitee ins Centro.

Ich aus der anderen Türe schnell raus, ins Auto, das Tor wurde inzwischen geöffnet – da sind alle schon „geeicht“ und ich bin rausgefahren. Draussen hielt ich nochmal an, vergewisserte mich: ja, die Tür war wieder zu, Y. drinnen im Centro. Alles gut. Diese Aktion dauerte heute zwei Stunden.

Alle Beteiligten von heute, die Mitarbeiter vom Centro wie auch wir Eltern sind überzeugt davon, dass dieser massive Widerstand durch die Depression mit dem wieder Eingewöhnen an die Routine nach der langen Sommerpause zu tun hat.

Ab morgen kommt der Kleinbus mit seinen Freunden drin tatsächlich zum Abholen bis vor die Haustüre gefahren (normalerweise Abholen an einer Bushalte-Station im Ort), um hoffentlich Y. das Lösen von zuhause zu erleichtern – sie machen wirklich so viel Gutes!

 

 

Wie bekomme ich solche Situationen, die für manch einen puren Stress bedeuten, in der Zwischenzeit so ruhig hin? Da spielt vieles eine grosse Rolle.

1.       Das Verständnis – Depression ist eine Krankheit, eine tief eingreifende Krankheit, die den Erkrankten wohl immer wieder im Heilungsprozess in eine tiefe, schwere, schwarze Morast-Masse zieht. Widerstand, Hoffnungslosigkeit, Antriebslosigkeit, fehlende Motivation ist keine (böse) Absicht, sondern der sichtbare Teil der Krankheit, der ja nicht immer und ständig so arg ist.

2.       Das Verständnis dafür, dass der Heilungsprozess stufenförmig verläuft – es geht immer mal wieder einen Schritt zurück, daran muss ich nicht ständig denken, aber wenn es soweit ist, dann als solches sein lassen. Morgen sieht es wahrscheinlich schon wieder ganz anders aus.

3.       Beständiges Achten auf mich selbst, auf meine Nerven, auf meine innere Ausgeglichenheit – also Achtsamkeit auf mich selbst, Selbstliebe. Alles tun, was mir guttut! Und das ist nicht shoppen gehen. Es ist eine Aufmerksamkeit auf das, was ich fühle und der Umgang damit. Es ist die Klarheit, was ich möchte für mich – und die Umsetzung. Nicht abbringen lassen davon. Ich kann vielleicht noch die Zeit dafür eingrenzen, mich aber nicht davon abbringen lassen.

4.       Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Das darf man nicht vergessen. Es gibt so viele Situationen am Tag, an denen man zumindest lächeln kann. Das tut allen gut.

5.       Verständnis für die jeweilige Persönlichkeit der weiteren, nahen Familienmitglieder. Jede, jeder reagiert auf bestimmte Situationen anders. Jeder bringt seine eigenen Erfahrungen, Erlebnisse mit. Sein lassen, mit Achtsamkeit, und darüber reden, wenn es gewünscht ist.

6.       Geduld – und ganz viel Liebe für alle Beteiligten. Das geht. Echt.

7.       Wichtig – alles Äussere existiert in solchen brenzligen Situationen nicht, darf einfach keine Priorität haben, es existiert nur das JETZT, der Fokus auf das JETZT. Dann geht das mit der Geduld, mit der Ruhe, mit dem Verständnis auch viel leichter.

Und alle, wirklich alle tools, Mittel und Wege, um dorthin zu kommen als pflegender Angehörige/Angehöriger sind geeignet und wertvoll.

Eines meiner tools - Handarbeit. Ich liebe es!


So, und deshalb schliesse ich hier den post und trinke erstmal – in Ruhe – eine Tasse Kaffee.

 

Bis zum nächsten Mal,

euere Christina


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